23. Maria in der Einsamkeit
Nachdem der göttliche Heiland
Seine liebevollste Mutter dem Körper
nach verlassen hatte, waren ihre Sinne gleichsam in Finsternis und
Schatten gehüllt,
weil die ihr Licht und Freude spendende Sonne der Gerechtigkeit für sie
untergegangen war.
Dagegen verlor der innere Blick ihrer Seele keinen einzigen Grad des göttlichen
Lichtes,
von dem sie ganz überströmt und mit mehr als seraphischer Liebe entzündet
war.
Während der göttliche Heiland Seiner heiligsten Menschheit nach abwesend
war,
mußten alle Geisteskräfte der seligsten Jungfrau sich hauptsächlich auf
die Gottheit
als ihr unvergleichliches Ziel richten. Sie lebte zurückgezogen in ihrem
Hause,
ohne Verkehr mit den Menschen, und widmete sich gänzlich der Betrachtung
und dem Lobe des Herrn.
Maria flehte, daß der Same des göttlichen
Wortes, den Jesus
in die Herzen der Menschen ausstreuen sollte, nicht durch deren
Undankbarkeit
und Hartherzigkeit verlorengehe, sondern reichliche Frucht bringe.
In dieser Einsamkeit ahmte Maria das Fasten Jesu in der Wüste nach;
denn in Seiner Gegenwart wie in Seiner Abwesenheit war sie ein lebendiges
Abbild
Seiner Werke.
Die Gebete Maria waren so
inbrünstig, daß sie über die Sünden der Menschen
heiße Tränen vergoß.
Sehr oft warf sie sich auf die Knie oder auf das Angesicht zur Erde
nieder. Diese Übung liebte sie ihr ganzes Leben lang. So wirkte sie mit ihrem
abwesenden, göttlichen Sohn zum Werke der Erlösung mit, und dieses ihr Wirken war in den
Augen des ewigen Vaters so mächtig, so
wirksam, daß der Herr um der Verdienste der gottesfürchtigen Mutter und ihrer Gegenwart
auf Erden willen über die Sünden, menschlich geredet, hinwegsah.
Sie war die Mittlerin, die uns das Glück verdiente,
von unserm Heiland
und Meister belehrt zu werden und aus Seinem eigenen Munde das Gesetz des
Evangeliums zu empfangen.
Wenn Unsere Liebe Frau von dieser
erhabensten Stufe des Gebetes herabstieg,
brachte sie die übrige Zeit in Unterredungen mit ihren
heiligen Engeln zu.
Jesus hatte ihnen aufs neue befohlen, während Seiner Abwesenheit der
heiligsten Jungfrau
in sichtbarer Gestalt zur
Seite zu stehen und sie als Seinen Tabernakel,
als die heilige Stadt Seiner Wohnung zu bedienen und zu beschützen.
Die Engel waren in allem gehorsam
und dienten ihrer Königin mit wunderbarer Ehrfurcht.
So lange der Geist Maria in das unermeßliche Meer der Gottheit versenkt
war,
fühlte sie die Abwesenheit der körperlichen Gegenwart ihres Sohnes und
Herrn nicht.
Wenn sie aber zum Gebrauch ihrer Sinne zurückkehrte, fühlte sie die
ungeduldige Macht der Liebe, einer Liebe, die stärker, reiner und
aufrichtiger war, als irgendein Geschöpf sich vorzustellen vermag. Es
wäre der Natur unmöglich gewesen, bei so großem Schmerz am Leben zu
bleiben,
wenn sie nicht wunderbarerweise gestärkt worden wäre.
In diesem Schmerz wendete sich
Maria an die heiligen Engel und sprach:
,,Ihr treuen Diener des Allerhöchsten, gebt mir Kunde von meinem
geliebten Sohn und Herrn!
Sagt mir, wo Er ist! Wo wird Deine heiligste Menschheit von
ihren Mühen ausruhen?
Du Licht meiner Augen, wer
wird Dir jetzt dienen?
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Ziel meiner Wünsche, Deine Gegenwart zu vergessen ist mir nicht möglich.
Was soll ich tun? Wer wird mich trösten und mir Gesellschaft
leisten in meiner bitteren Einsamkeit? Was könnte ich finden unter den
Geschöpfen, wenn Du mir fehlst,
Du mein Alles, die einzige Liebe meines Herzens?
Ihr himmlischen Geister, erzählt mir von meinem Sohne.
Verberget mir nichts von dem, was ihr in dem Spiegel Seiner Gottheit
schaut.
Berichtet mir alles, damit ich Ihm nachfolge!"
Die heiligen Engel gehorchten und
trösteten Maria,
indem sie mit ihr von dem Allerhöchsten sprachen und die
Vollkommenheiten
der heiligsten Menschheit ihres Sohnes durch wunderbare Lobpreisungen
verherrlichten.
Sie gaben ihr Nachrichten über alles, indem sie ihren Geist
so erleuchteten
wie ein höherstehender Engel den tieferstehenden erleuchtet.
Sie verkehrte innerlich mit den Engeln, ohne Tätigkeit der
Sinne.
So erfuhr sie, wann ihr göttlicher Sohn in der Einsamkeit betete
, wann Er lehrte, wann Er die Armen und Kranken besuchte.
Maria ahmte dies alles nach und verminderte so ihren Schmerz.
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